Kaum ein anderes Taschenmesser ist so berühmt wie das französische Laguiole. Wahr ist aber auch, dass über kaum ein anderes Messer so viele Falschinformationen im Umlauf sind.
Ziert den Kopf der Rückenfeder nun eine Fliege oder eine Biene? Und was hatte Napoleon damit zu tun? Wurde das Laguiole wirklich nur in Laguiole hergestellt? Und gibt es tatsächlich eine Verbindung zur spanischen Messertradition? Die Antworten auf diese Fragen lauten: Es ist eine Biene. Nichts. Nein. Sehr unwahrscheinlich.
Wer’s genauer wissen will, dem sei Christian Lemassons sachkundiges Buch über die Geschichte des Laguiole-Messers ans Herz gelegt. Der Autor hat sich die Mühe gemacht, Sammlungen, Nachlässe und Familienarchive aufzuspüren und auszuwerten. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, mit manchen Mythen über das berühmte Messer aufzuräumen. So ist beispielsweise immer noch häufig zu lesen, das Laguiole sei aus der Synthese von Capujadou, einem einfachen feststehenden Messer aus der Region Aubrac, und einem katalanischen Klappmesser hervorgegangen. Wie der Autor im Schlusskapitel nachweist, gibt es für diese These nicht nur keine Belege, es spricht sogar einiges dagegen.
Doch der Reihe nach. Christian Lemasson, von Hause aus Ethnograf, legt auf den ersten 30 Seiten die regional- und kulturgeschichtlichen Wurzeln des Laguiole frei. Danach widmet er sich den Familienbetrieben, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Produktion des Messers in dem Ort Laguiole begannen. Heute ist nur noch der Name Pierre Jean Calmels geläufig, der als Erfinder des Laguiole-Messers gilt, doch an der Erfolgsgeschichte waren mehrere Familien beteiligt.
Der Autor setzt seine historischen Studien fort mit den ursprünglichen Formen des Taschenmessers, das im 19. Jahrhundert noch ganz anders aussah als die heutigen Laguioles. Das „Laguiole droit“ etwa war nicht mit der heute üblichen Yatagan-Klinge und einem geschwungenen Griff ausgestattet, sondern verfügte über eine Drop-Point-Klinge und eine geradlinige Griffform. Und erst um 1880 begannen die Messerschmiede damit, den Kopf der Rückenfeder – in der Fachsprache „la mouche“ genannt – zu verzieren, beliebt waren anfangs vor allem florale Ornamente. Die Verzierung mit einer Biene lässt sich erst ab 1908/1909 nachweisen.
Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Betrieben außerhalb von Laguiole, mit der Verlagerung der Messerherstellung aus der Aubrac-Region nach Thiers, mit technischen Neuerungen in der Produktion und mit der Renaissance der Messerfertigung im Ort Laguiole in den 1980er-Jahren. Christian Lemasson formt die historischen Fakten zu einer lebendigen Geschichte, die zudem reich illustriert ist. Die vielen Abbildungen zeigen alte Musterbücher, Rechnungen und Familienfotos, vor allem aber immer wieder Laguiole-Modelle aus verschiedenen Jahrzehnten und Werkstätten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Aber auch die Produkte der heutigen Manufakturen und Messermacher werden in Text und Bild vorgestellt.
Christian Lemassons Buch wird über lange Zeit das Standardwerk zur Geschichte des Laguiole-Messers bleiben. Es ist in einem kleinen Regionalverlag erschienen (Éditions de la Montmarie) und scheint bereits vielerorts vergriffen zu sein. Eine Google-Recherche fördert aber immer noch das eine oder andere Exemplar zutage.
Christian Lemasson: Histoire du couteau de Laguiole, 200 Seiten (ISBN 978-2-915841-56-5)